Staatsanwaltschaft mit Schaum vor dem Mund

Erschienen am 6. November 2013 auf www.investigativ.ch

Von Florian Imbach

Die Universität Zürich hat in einer grossangelegten Rasterfahndung mit der Staatsanwaltschaft Zürich kooperiert, wie der Tages-Anzeiger berichtet hat. Die Universität lieferte Daten Dutzender Mitarbeiter, die in Kontakt mit Medien standen. Der genaue Ablauf der Spähaktion ist noch unklar. Was sicher ist: Um die «verdächtigen» Mitarbeiter zu identifizieren, durchsuchte entweder die Staatsanwaltschaft oder die Universität Mail-Konti und Dokumente Tausender Bürger. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Staatsanwaltschaft zusätzlich zahlreiche Telefonverbindungsdaten überprüfte.

Der Eingriff der Zürcher Staatsmacht erfolgte im Rahmen einer Ermittlung wegen Amtsgeheimnisverletzung. Es wird vermutet, dass einer der rund 8000 Mitarbeiter der Universität Zürich Dokumente an einen Journalisten weitergab. Staatsanwaltschaften in der Schweiz scheinen jegliche professionelle Distanz verloren zu haben, wenn es um Amtsgeheimnisverletzung geht. Dabei ist ihnen offenbar jedes Mittel recht. In Neuenburg liess die Staatsanwaltschaft erst kürzlich in einem ähnlichen Fall gar das Haus eines Journalisten durchsuchen und dessen Computer beschlagnahmen. Das zuständige Kantonsgericht beurteilte die Aktion als illegal. Demnächst wird die Aktion vor Bundesgericht verhandelt.

Der ETH-Soziologie-Professor Dirk Helbing hat sich am 5. November im Tages-Anzeiger zur Affäre Uni Zürich geäussert (Artikel nicht online). Er schreibt, die Schweiz sei mittlerweile an einem bedenklichen Punkt angelangt: «An einem Punkt, wo Fahndungsmethoden zur Ermittlung von Terroristen und Schwerverbrechern – die Rasterfahndung – auf Tatbestände angewendet werden, bei denen keinerlei Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliegt.» Helbing warnt vor einer schleichenden Entwicklung hin zu einem totalitären System, wo Bürger wie «gut geölte Rädchen in einem Getriebe funktionieren». Niemand wage mehr, sich quer zu stellen.

Die mittel- und langfristigen Folgen der Uni-Rasterfahndung als Beispiel eines grassierenden «Law and order»-Trends, wie ihn Helbing beschreibt, sind ernst zu nehmen. Journalistinnen und Journalisten beschäftigen sich dieser Tage mit den unmittelbaren und praktischen Folgen für ihre Arbeit. Für viele ist klar: Mit solchen Aktionen werden jene stigmatisiert, die Kontakte zu Journalisten pflegen.

– Der alltägliche Austausch mit Journalisten wird angeprangert. Der Eindruck entsteht, dass schon ein Gespräch oder eine E-Mail verdächtig sind. Menschen, die Kontakte zu Journalisten pflegen, werden durch Staatsanwaltschaften in die Nähe von Kriminellen gerückt.

– Die Recherche wird schwieriger. Durch ein Klima der Angst und Verunsicherung sind weniger Menschen bereit, mit Journalisten zu sprechen.

– Journalisten werden ausgegrenzt. Der Zugang zu Menschen in der realen Welt ausserhalb der Redaktionsräume wird weiter eingeschränkt. Schon heute bewegen sich viele Journalisten in einer Parallelwelt, die von PR-Menschen unterhalten wird. Nun droht der alltägliche, niederschwellige Austausch mit der «Basis» gänzlich wegzubrechen.

Doch was soll eine Journalistin, ein Journalist nun tun? Es kann nicht sein, dass sich unser Gegenüber bereits in einem Verhörraum der Stadtpolizei Zürich wähnt, wenn es eine Tages-Anzeiger-Visitenkarte in die Hand gedrückt bekommt. Ein wichtiger Grundsatz – eine Grundhaltung auch in redaktionsinternen Diskussionen – ist daher, im Alltag konsequent gegen die Stigmatisierung anzukämpfen. Der Kontakt mit einem Journalisten ist nichts Verwerfliches. Journalisten müssen wissen, was ist, bevor sie schreiben können, was ist.

Daneben sollten sich Journalisten auch an gewisse Regeln halten, um ihre Kontakte vor dem Zugriff einer wildgewordenen Staatsanwaltschaft oder eines übereifrigen Arbeitgebers zu schützen:

– Zurück zum persönlichen Treffen. Das ist sowieso viel angenehmer. Bei heiklen Sachen ein Muss.

– Falls ein Telefongespräch nötig ist: Benutzen Sie nicht Ihren eigenen Direktanschluss, sondern ein allgemeines Telefon auf der Redaktion. Die manuelle Rufnummerunterdrückung schützt nicht, wenn die Staatsanwaltschaft Verbindungsdaten anfordert.

– Wenn E-Mail-Korrespondenz nötig ist: Nur Unverfängliches besprechen, Brisantes in jedem Fall nur bei einem persönlichen Treffen. Falls Ihr Gegenüber eine private Adresse hat, verwenden Sie diese und raten Sie Ihrem Kontakt, private Nachrichten nur zu Hause abzurufen. Verwenden Sie auch nicht Ihre Redaktionsadresse, sondern eine private Adresse. In heiklen Fällen eine eigens eingerichtete unter einem Alias.

– Konsequenter «digitaler» Quellenschutz: Für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft Ihre Geräte beschlagnahmt, müssen Sie sichergehen, dass Ihren Quellen keine Nachteile erwachsen. Kontakte also nicht auf dem Computer speichern. Verschlüsseln Sie Ihre Korrespondenz, löschen Sie nicht mehr benötigte Mails. Lassen Sie sich digitale Dokumente nur per Datenträger (USB-Stick, CD) überreichen. Bewahren Sie heikle Dokumente ausschliesslich als Ausdruck auf.

Die digitale Massen-Suchaktion der Staatsanwaltschaft Zürich zeigt einmal mehr, wie wichtig solche Massnahmen sind, gerade wenn es sich bei den Kontakten um  Whistleblower handelt. Denn trotz miserabler Gesetzeslage und bissiger Staatsanwaltschaften trauen sich in der Schweiz mutige Menschen (noch!), Missstände aufzudecken, die andere lieber totschweigen.

Florian Imbach ist Vorstandsmitglied von investigativ.ch

Medienpreis Eugen für Mario Poletti und Florian Imbach

Am 31. Oktober 2013 erhielten Mario Poletti und Florian Imbach den Medienpreis Eugen 2013 in der Kategorie TV. Der Preis wird jährlich von der IT-Firma Bedag in Bern verliehen und zeichnet aussergewöhnliche Beiträge aus, die sich mit Informatikthemen befassen.

„Den Fernsehpreis verleiht die Jury in diesem Jahr an das Autorenteam Florian Imbach und Mario Poletti. Mit ihrem Beitrag „Open Data – Staat ohne Geheimnisse“ setzen sie einen Kontrapunkt zur Diskussion rund um den „gläsernen Menschen“. Die im Beitrag vorgestellte globale Bewegung Open Data setzt sich dafür ein, dass Bürger öffentliche, aggregierte Daten im Internet nicht nur einsehen, sondern auch selber auswerten können. Das Ziel der Bewegung ist mehr Transparenz und Bürgernähe. Es geht also auch um die Wiederherstellung von verlorenem Vertrauen in den Staat. Ein heisses Eisen in Zeiten von Schuldenmisere und Politikverdrossenheit.“

 

Zur Medienmitteilung von SRF / Bedag.

Cyberwar gegen das Heidiland

Cyberwar gegen das Heidiland Ausschnitt

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 22. September 2013

Von Catherine Boss und Florian Imbach

Es ist Sonntag, 26. Februar 2012, 2 Uhr nachts. Im Bauernhaus im Val Lumnezia ist es still. Das laute Klingeln seines Handys reisst den Zürcher Informatikfachmann Guido Rudolphi aus tiefstem Schlaf. Er macht Ferien mit der Familie. «Ein Angriff! Die Server laufen heiss», ruft ein Kollege aus Zürich aufgeregt ins Telefon.

Die Attacke begann um genau 1.46.37 Uhr, seither sind die Server des Unternehmens für IT-Sicherheit innert Minuten 100 000-mal angefragt worden, 400 Angriffe pro Sekunde. Die Server seien überlastet, berichtet der Mitarbeiter. Rudolphi ist sofort hellwach. Er zündet sich eine erste Zigarette an. Ihm schwant Böses.

Fünf Stunden, zwei Kannen Kaffee und ein Päckchen Zigaretten später die Gewissheit: «Sie versuchen Beweise zu zerstören.» Der IT-Forensiker ist seit Wochen auf der Fährte von Hackern, die eine der grössten Cyberattacken weltweit lanciert haben. Eine Offensive gegen militärische und zivile Ziele. Gegen einen Telekommunikationskonzern in Norwegen, gegen den Autohersteller Porsche, einen internationalen Flughafen in Indien und politische Gruppierungen in Pakistan. Und gegen Ziele in der Schweiz – darunter der Luxusgüterhersteller L.* und die Beratungsfirma K.*, die auch prominente Schweizer Politiker vertritt. Zum Schutz der Firmen werden sie hier nicht mit Namen genannt.

Die Spur führt zu mysteriösem Auftraggeber in den USA

Die Angreifer sind mit ihrer Cyberattacke unentdeckt bis ins Innerste der Firmen vorgedrungen, haben dort Zugriff auf alles gehabt, was es an Geheimem zu sehen gibt. Das haben Analysen forensischer Spezialisten in den USA, in Norwegen, Indien und in der Schweiz mittlerweile ergeben. Erstmals kann ein solcher Angriff auf Schweizer Unternehmen detailliert nachgezeichnet werden. Die Hintergründe der Angriffe bleiben jedoch bis heute rätselhaft. Die Spur führt zu einer Sicherheitsfirma in Indien und einem mysteriösen Auftraggeber in den USA.

Der Fall ist exemplarisch. Er zeigt eine neue Eskalationsstufe in diesem Krieg im Netz und verdeutlicht, wie wenig die Schweizer Behörden solchen Angriffen entgegenzusetzen haben. Um das zu ändern, rüstet die Zürcher Staatsanwaltschaft ihre Cyberabteilung jetzt auf. Die Bundesanwaltschaft will ebenfalls ausbauen.

Es begann alles scheinbar harmlos im September 2011. Die Mitarbeiter der betroffenen Schweizer Firmen L. und K. bekamen wie immer E-Mails von Kunden und Geschäftspartnern. Hätten die Chefs und die Angestellten genauer hingeschaut, hätten sie erkannt, dass die Absenderadressen in einigen Fällen minim abwichen – zum Beispiel ein Buchstabe zu wenig. So öffneten die Sekretärin, der Kundenberater, aber auch die Direktoren der angegriffenen Firmen ahnungslos die angehängten Dokumente. Ein spezielles Schadprogramm, Trojaner genannt, setzte sich auf den Computern fest und begann sofort alle Dokumente zusammenzutragen, die es finden konnte. Vertragsdokumente, Pläne, Kundendaten – einfach alles. Das gesamte gespeicherte Wissen der Firmen lag für den Angreifer offen – über mehrere Wochen, bis die Informatiker stutzig wurden. Sie stellten eine unüblich hohe Internetaktivität der Firma fest und fanden im Dezember 2011 die Trojaner auf den Computern.

Die Beratungsfirma kam dem Datenklau einen Monat früher auf die Schliche. Eine aufmerksame Mitarbeiterin schlug Alarm, als sie eine E-Mail von einem Kunden bekam, von dem sie wusste, dass er abwesend war. Die Firma K. engagierte einen Spezialisten für solche Fälle, den erfahrenen IT-Forensiker Rudolphi.

Noch vor Weihnachten 2011 macht er sich auf eine zweimonatige Jagd nach dem Aggressor. Schnell wird klar: Der Angreifer wusste sehr viel über seine Schweizer Opfer. Er formulierte E-Mails täuschend echt. Er musste sich gründlich vorbereitet haben, Zeitungsartikel über die Firmen gelesen und die Firmenseiten studiert haben. Selbst die privaten Social-Media-Konten mehrerer Mitarbeiter hat er gehackt. Dieses ausgeklügelte Vorgehen ist der neue Trend. So werde der Cyberwar heute geführt, sagen Spezialisten.

Rudolphis Ermittlung gestaltet sich schwierig. Die Spur der geklauten Daten bringt ihn nicht weiter, Server in Frankreich und Holland sind lediglich Zwischenspeicher, danach ist die Fährte kalt. Nach tagelanger Suche dann endlich die erste heisse Spur: Rudolphi findet heraus, dass ein Teil der gefälschten E-Mails über Server in Zürich verschickt wurde. Der Angreifer hat diese beim Anbieter Cloudsigma gemietet. Was Rudolphi auf dem Zürcher Server findet, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: eine Liste der Kreditkartendaten zahlreicher Visa-Kunden in Argentinien, vertrauliche Unterlagen über die ungarische Börse und ein verschlüsseltes Dokument mit dem Namen GHIAL_VAPT.zip.

Sicherheitsunterlagen eines Airports auf Schweizer Server

Dem Forensiker gelingt es ohne grossen Aufwand, die Datei zu öffnen. Sie enthält streng geheime Sicherheitsunterlagen des Flughafens Hyderabad in Indien, detaillierte Angaben, welche Schwachstellen auf welchem Computer zu finden sind und wie man ins Flughafenleitsystem eindringen kann. «Mehr als genug, um den Flughafen lahmzulegen und sicherheitstechnisch kritische Manipulationen vorzunehmen», ist Rudolphi überzeugt. Alles frei verfügbar für Geheimdienste, Terroristen oder Wirtschaftsspione. Ein Super-GAU für jeden Flughafen. Cloudsigma will den konkreten Fall nicht kommentieren. Die Firma sagt: «Wir halten uns an Schweizer Recht und kooperieren mit den Schweizer Behörden.»

Rudolphi beginnt zu begreifen, dass hinter dem Angriff in der Schweiz weit mehr steckt als eine ausgeklügelte Spionageaktion. Umgehend informiert er am 25. Februar 2012 den Sicherheitschef des indischen Flughafens und erzählt ihm von seinem Fund. Der fällt aus allen Wolken. Er liefert den ersten konkreten Verdacht, wer hinter den Angriffen auf den indischen Flughafen und die Ziele in der Schweiz stecken könnte.

Der Schweizer Trojaner wird auch in Norwegen eingesetzt

Mit zittriger Stimme nennt der indische Sicherheitschef den Namen Appin Security Group. Er habe dieser Firma den Auftrag gegeben, systematisch die IT-Schwachstellen des Flughafens zu testen. Nur sie könne das geheime Material auf den Schweizer Server geladen haben. Appin ist eine grosse indische IT-Sicherheitsfirma, die auch für das indische Militär und den Premier arbeitet. Stunden nach diesem Gespräch beginnt der Angriff mitten in der Nacht gegen Rudolphis Firma. Er vermutet Appin dahinter. Gegenüber der SonntagsZeitung bestreitet Appin jegliche Beteiligung (siehe Box rechts).

Die Schweizer Beratungsfirma konfrontiert Appin. In mehreren Telefongesprächen und E-Mails erklärt ein Jurist von Appin schlussendlich, ihre Infrastruktur sei in diesem Fall tatsächlich benutzt worden. Er spricht zuerst von einem Missverständnis, dann von einem fehlbaren Mitarbeiter. Zuletzt liefert er in einer E-Mail vom 8. Mai 2012 den Namen und die Bankverbindung eines angeblichen Auftraggebers. «Steven S.*, Bank: Wells Fargo, Account No: 20120106000772169».

Damit verlagert sich im Sommer 2012 die Suche in die USA. Die Schweizer Beratungsfirma engagiert zwei US-Detektivbüros. Sie sollen herausfinden, wer Steven S. ist und für wen er arbeitet. Doch Telefonnummer und Adressen führen ins Leere. Die Detektive postieren sich vor seinem Haus, doch er taucht nicht auf. Seine Profile im Internet sind gelöscht. Nur eine einzige Spur findet sich: In der digitalen Bibliothek des Department of Homeland Security der US-Regierung existiert ein Aufsatz von ihm über Gefahren der Terrorismusfinanzierung. Doch die Arbeit ist nicht mehr abrufbar. Ist Steven S. eine erfundene Person? Oder agiert er verdeckt? Die Detektive geben auf.

Die Angriffe aber gehen international weiter. Im Frühling 2013 untersucht in Oslo ein IT-Forensiker der Sicherheitsfirma Norman einen Cyberangriff auf den norwegischen Telecomkonzern Telenor. Auch hier taucht mehrmals der Name Appin auf. Snorre Fagerland und sein Team finden innert zweier Monate mehr als 600 weitere Spionageopfer. Politische, militärische und wirtschaftliche Ziele. «Wir fanden eine riesige Spionageinfrastruktur, die bereits Jahre im Einsatz ist», sagt er heute. Die Angreifer benutzten die gleichen Trojaner, wie sie Rudolphi in der Schweiz gefunden hat.

Zur gleichen Zeit untersucht auch Adam Meyers, IT-Koryphäe in den USA, den Fall. Auch er ist überzeugt: «Es ist sehr wahrscheinlich, dass Appin dahintersteckt.» Der Angriff gegen die Schweizer PR-Firma sei brisant: «Eine Firma, die Politiker berät, ist für einen gezielten Hackerangriff sehr interessant, denn damit kann der Angreifer heikle Informationen über wichtige Personen beschaffen, die öffentlich nicht zugänglich sind», sagt Meyers.

Schweizer Cyberabwehr kommt nicht vom Fleck

Christof Dornbierer, Geschäftsführer des IT-Dienstleisters Adnovum, hört sich die Schilderung des Spionageangriffs aufmerksam an und sagt dann: «Dieser Fall zeigt eine neue Eskalationsstufe.» Professionelle, private Hackerfirmen, die komplette Spionagedienstleistungen anbieten würden, das sei eine Gefahr für die Schweiz.

Auf diese Art von Attacken ist die Schweiz schlecht vorbereitet. «Wir leben im ‹Heidiland›», sagt ein auf Cybercrime spezialisierter Ermittler. Ein komplettes Lagebild habe hierzulande niemand, sagen mehrere Insider. Seit Jahren müsste das VBS eine Abwehr aufbauen, doch das Projekt kam nicht vom Fleck. Kürzlich ist es dem Finanzdepartement übertragen worden. «Weder die Armee noch der Nachrichtendienst betreiben wirklich eine Abwehr gegen Cyberangriffe», sagt Sicherheitsspezialist Sandro Arcioni. Er berät unter anderem den bundeseigenen Rüstungsbetrieb Armasuisse.

So fällt die Abwehr faktisch den Strafverfolgern zu. Doch ihnen sind meist die Hände gebunden. In 90 Prozent der Fälle kämen die Angriffe aus einem politisch motivierten Umfeld, sagt ein Staatsanwalt. Und er fügt an: «Wir können einen fremden Staat via Rechtshilfe schwerlich darum bitten, uns zu helfen, Hacker vor Gericht zu bringen, die für diesen Staat gearbeitet haben.»

Aus Angst um den Ruf keine Anzeigen von Unternehmen

Dazu kommt, dass Opfer selten Anzeige erstatten. Vertrauen ist das Kerngeschäft vieler Firmen. Dasselbe gilt für Betreiber heikler Ziele wie Flughäfen, AKW oder Stromnetze. Ihr zentrales Image fusst darauf, dass ihre Daten sicher sind. Ein Hackerangriff, der publik wird, ruiniert das Ansehen. Zudem sind die Strafverfolger in diesem Kampf personell hoffnungslos untervertreten (siehe Interview unten).

Der mysteriöse Spionageangriff aus Indien ist noch längst nicht aufgeklärt. Die beiden Schweizer Firmen haben Strafanzeige eingereicht – die Staatsanwaltschaft II in Zürich ermittelt. Auch in Norwegen läuft seit der Anzeige von Telenor eine Untersuchung der Kriminalpolizei. Experten vermuten weitere Opfer in der Schweiz.

Rudolphi hat seine Arbeit abgeschlossen. Er will den Journalisten noch zeigen, wie die Trojaner aussehen. Er öffnet eine kryptische Datei. Plötzlich verselbstständigt sich das Schadprogramm und infiziert den isolierten Rechner. Der Prozessor rattert, das System stürzt ab. Rudolphi verwirft die Hände und zündet sich eine weitere Zigarette an.

* Namen der Redaktion bekannt.

Indische Firma Appin wehrt sich gegen die Vorwürfe

Vertreten durch den Genfer Rechtsanwalt Nicolas Capt, bestreitet Appin jede Beteiligung an einer Cyberattacke. Die Anschuldigungen seien haltlos. «Appin hat keinerlei Kenntnis von einem Angriff gegen Schweizer Ziele, in dessen Zusammenhang das Unternehmen genannt wird», teilt der Anwalt mit. Auch habe Appin niemals seine Infrastruktur für Dritte zur Verfügung gestellt, in der Absicht, dass damit ein Hackerangriff hätte lanciert werden können. Schlussendlich sei Appin der Name des angeblichen Auftraggebers, Steven S., nicht bekannt.

Der Mann ohne Heimat

Der Mann ohne Heimat Ausschnitt

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 26. Mai 2013 und in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Mai 2013

Von Florian Imbach

Eine Steueroase nach der anderen wird ausgetrocknet. Österreich und Luxemburg geben als letzte EU-Staaten ihr Bankgeheimnis auf, Singapur führt den automatischen Informationsaustausch ein. In der Karibik fallen die Steuerregimes wie Dominosteine. Aber wer denkt, es gebe für Reiche keine Steuerschlupflöcher mehr, kennt James Mellon nicht.

Durch eine Spur in den Offshore-Leaks-Dateien gerät ein Mann ins Rampenlicht, der es schafft, an keinem Ort der Welt als Steuerpflichtiger registriert zu werden. Mellon ist der schwerreiche Nachfahre eines US-Öl-Tycoons. Er ist passionierter Jäger, ausgezeichnet für seine zahlreichen Trophäen, vor allem aber ist er überzeugter Steuervermeider. Der ehemalige Kunde eines Liechtensteiner Treuhänders führt – vollkommen legal – Steuerbehörden weltweit an der Nase herum: in Italien, in den USA und in Klosters im Bündnerland.

Am Telefon zeigt sich der 70-jährige «Steuerunpflichtige» angetan über Nachfragen aus der Schweiz und gibt breitwillig Auskunft über seine Tricks: «Es ist alles legal, glauben Sie mir.» Das Wichtigste: Mellon bleibt nie lange genug an einem Ort, um dort steuerpflichtig zu werden. Dazu befolgt er ein striktes Reiseregime. «Ich reise viel und befolge jeweils genau die Regeln jedes Landes», sagt er.

Mellon, der jetzt über Offshore-Leaks als Steuerjongleur bekannt wird, ist in den USA kein Leichtgewicht. Die Mellon-Familie gehört zu den einflussreichsten und wohlhabendsten des Landes. Grossvater William Mellon gründete die Gulf Oil Company in Pittsburgh, die zu einer der grössten der Welt wurde und heute Chevron gehört. Eine Universität trägt den Namen der Familie, und die BNY Mellon Bank beschäftigt weltweit 48 700 Mitarbeiter.

James Mellon fühlte sich weder zum Banker noch zum Ölmagnaten berufen. Lieber zog er als junger Draufgänger durch Afrika und erlegte Tiere. Als bislang einziger Jäger weltweit gelang ihm der Abschuss dreier seltener Trophäen: die Riesen-Rappenantilope, der Äthiopische Steinbock und das scheue Kleinstböckchen. Bereits mit 30 erhielt er für seine zahlreichen Jagderfolge als bisher jüngster Preisträger die «Roy E. Weatherby Big Game Trophy». Eine exklusive Grossjagdauszeichnung, die als «Oscar der Jägerwelt» gilt.

Als junger Amerikaner legte sich Mellon aber mit einem Gegner an, der sich nicht so einfach erlegen liess. «Ich lebte damals in Kenia und wollte ein Testament erlassen. Mein Anwalt sagte mir, wenn ich in Afrika sterbe, bekomme die US-Regierung 55 Prozent von allem, was ich weltweit besitze», sagt er und fügt an: «Aber der verdammten Regierung will ich mein Geld nicht geben!»

«Ich habe keine Beziehung mehr zu den USA»

Nach seinem ersten Schock über den langen Arm der US-Steuerbehörden setzte er 1977 seinen ersten Steuer-Kunstgriff ein: Er gab seine US-Staatsbürgerschaft ab und wurde Bürger der Britischen Jungferninseln. «Ich hoffe, Sie verstehen, was das bedeutet? Seither bin ich ausschliesslich britischer Staatsbürger und habe keine Beziehung mehr zu den USA», sagt er. Seine wichtigste Lektion im Kampf gegen die mächtigste Steuerbehörde der Welt: Wer den US-Fiskus austricksen will, darf zunächst einmal kein Amerikaner mehr sein.

Mit dem Ablegen der Staatsbürgerschaft blieb noch ein Problem für Mellon: An seinem Wohnsitz in den USA war er immer noch steuerpflichtig, auch als Ausländer. Also zog er offiziell auf die Britischen Jungferninseln. Als sich auch dort das Fiskalklima zu seiner Unzufriedenheit entwickelte, folgte Kunstgriff Nummer zwei: ein Leben ohne Wohnsitz.

Er meldete sich in der Karibik ab und wohnt heute offiziell an keinem Ort der Welt. Damit überlistet er nebst der US-Steuerbehörde auch gleich noch die Behörden in Italien, auf den Jungferninseln und in der Schweiz. In Klosters besitzt seine Familie ein Haus. Ein hübsches Chalet mit Garten, zehn Minuten von der Seilbahn entfernt. «It is very nice there», schwärmt Mellon.

«Jedes Land hat andere Regeln», sagt er. Die USA beispielsweise haben eine ganze Liste von Kriterien, nach denen die Behörden bestimmten, ob jemand ein Einwohner sei oder nicht: «Etwa ob du in lokalen Vereinen Mitglied bist oder ob du dich für Wahlen registriert hast.» Sein Aufenthaltsstatus sei von der US-Steuerbehörde noch nie angezweifelt worden, sagt Mellon. In der Schweiz dürfen Ausländer wie Mellon bis zu drei Monate im Jahr wohnen, ohne steuerpflichtig zu werden (siehe Kasten).

Als Mellon im Zuge der Offshore-Leaks-Enthüllungen in den USA genannt wurde, bestätigte er freimütig, mit Offshore-Firmen Steuern optimiert zu haben. Dass dies nicht überall gut ankommt, ist ihm egal. «Es interessiert mich nicht, was die Leute denken. Mich interessiert einzig, ob das, was ich mache, legal ist. Und was ich mache, war und ist legal.»

Liechtenstein spielte für Mellon eine wichtige Rolle

Möglichst wenig Steuern zu bezahlen, ist für James Mellon so natürlich wie für Normalverdiener das Fleisch dort zu kaufen, wo es gerade Aktion ist. Und genau so, wie Normalverdiener viel Aufwand betreiben, um Preise zu vergleichen, steckt James Mellon viel Energie da hinein, sein Geld dort anzulegen, wo ihm am meisten übrig bleibt. In den 1990er- und 2000er-Jahren betrieb er zahlreiche Offshore-Firmen. In den Offshore-Leaks-Dokumenten finden sich allein für die Jahre 2002 bis 2009 Transaktionen von über 60 Millionen Dollar.

Für Mellons Konstrukte spielte der Finanzplatz Liechtenstein eine wichtige Rolle. Ein Treuhänder aus Vaduz verwaltete während Jahren die Offshore-Millionen des Briten. Mellon mag die Banker und Treuhänder aus dem Ländle. «Ich vertraue den Menschen in Liechtenstein. Sie haben eine Schweizer Mentalität», sagt der 70-Jährige und lässt keinen Zweifel daran, dass er das als Kompliment versteht.

Derart abenteuerlich waren die Transaktionen des Briten, dass es selbst den Finanzspezialisten in der Karibik nicht mehr geheuer war. 2005 etwa wollte Mellon 7,5 Millionen Dollar von einem Firmenkonto in der Karibik auf sein Privatkonto überweisen und weigerte sich damals, schriftlich zu bestätigen, dass er korrekt Steuern zahle. Der Offshore-Dienstleister Portcullis TrustNet bestand darauf, dass die Transaktion zumindest in ein zinsloses Darlehen verpackt und durch den offiziell eingetragenen Besitzer der Firma in Liechtenstein abgesegnet wird. Der Treuhänder aus Vaduz gab grünes Licht, trotz Steuerbedenken der Berater. Gegenüber der SonntagsZeitung wollte der Treuhänder keine Stellung nehmen.

Mellon kann sich noch «vage» an die Transaktion erinnern. Die Berater hätten ihm gesagt, man müsse das Geld als Darlehen abwickeln, «aus juristischen Gründen». Dem US-Fiskus habe er das Geld selbstverständlich nicht angeben müssen, weil er damals bereits keinen Wohnsitz mehr dort hatte.

Doch selbst ein James Mellon, beseelt von der Mission, keiner Regierung einen Cent zu schenken, muss ab und zu die Waffen strecken. Er zahle immer noch Tausende Dollar Liegenschaftssteuern und «volle Steuern» auf zwei Trusts in den USA. Die Trusts hat sein Grossvater, der Öl-Tycoon, seinerzeit gegründet und ihm vererbt. «Dieses Geld steckt in den USA fest. Es ist unmöglich, das Vermögen aus dem Land zu bringen.»

In der Karibik lege er sein Geld übrigens nicht mehr an. Das sei nicht mehr vorteilhaft. Wo sein ehemaliges Offshore-Vermögen heute liegt, will er nicht verraten und antwortet mit einem Anflug von Schweizer Mentalität: «Das ist Privatsache.»

Der ungestrafte Missbrauch

Der ungestrafte Missbrauch Ausschnitt

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 28. April 2013

Von Daniel Glaus, Florian Imbach und Martin Stoll

An den Küchenschränken kleben Kinderzeichnungen. Eine Blumenwiese. Eine Sonne. Und eine graue Pistole – «Für die Polizei des Kantons Solothurn». Es sind Bilder von Kindern, die nach einem sexuellen Missbrauch hier im Dachstock der Solothurner Polizei befragt wurden. Oder von Kindern, die auf ihre vergewaltigten Mütter warten mussten.

Pro Woche werden in der Schweiz 25 sexuelle Übergriffe auf Kinder angezeigt. Wöchentlich melden durchschnittlich elf Frauen eine Vergewaltigung. 2012 erhielt die Polizei total 1203 Anzeigen wegen sexueller Handlungen mit Kindern und 569 wegen Vergewaltigung (siehe Grafik).

Die Anzeigen gemäss Kriminalitätsstatistik widerspiegeln allerdings nur rund ein Fünftel des wahren Ausmasses. Bloss circa 20 Prozent der schweren Sexualdelikte werden der Polizei überhaupt gemeldet. Dies hielt der Bundesrat in einem Bericht fest. Dieser stellt die Arbeit der Polizei mit Sexopfern kritisch dar: Das Schweigen der Opfer liege auch am «mangelnden Vertrauen in die Polizei und die Justizbehörden». Wenn das Vertrauen in die Polizei zunimmt, werden mehr Sexualdelikte gemeldet und somit auch mehr Sextäter verurteilt.

Im Zweifel wird für den Angeklagten entschieden

Ob der kleine Anteil der angezeigten Täter auch verurteilt wird, hängt von der Glaubhaftigkeit des Opfers ab. Geschieht der Übergriff unter Bekannten, steht es Aussage gegen Aussage – im Zweifel für den Angeklagten.

Dass wegen mangelhafter Polizeiarbeit Sexualstraftäter ungeschoren davonkommen, monieren mehrere Opferanwälte. Sie haben der SonntagsZeitung Vergewaltigungsfälle geschildert, in denen der offensichtliche Täter freigesprochen wurde – weil das Gericht von den Aussagen des Opfers nicht überzeugt war. Oft war in diesen Fällen die Ersteinvernahme des Opfers durch die Polizei zweifelhaft.

Verheerend sei, wenn sich die Frauen von der Polizei nicht ernst genommen fühlten, sagt Psychologin Regula Schwager von der Beratungsstelle Castagna. Sie attestiert der Polizei, dass sich die meisten Beamten korrekt verhielten. Sie berate aber auch Opfer, die stark verunsichert würden. Einer jungen Frau sei nach der Schilderung des sexuellen Übergriffs vorgehalten worden: «Wieso hätte er das tun sollen?»

Monika Egli-Alge, Leiterin des Forensisches Instituts Ostschweiz, kritisiert, dass manchmal sogar Meldungen sexueller Handlungen mit Kindern nicht ernst genug genommen würden. «Es kann gut sein, dass der Polizist den Eindruck hat oder vermittelt, die Kinder hätten vielleicht nur ein wenig ‹dökterlet›.»

Experten sind sich einig, dass mit einer professionelleren Betreuung der Opfer durch die Polizei gleich zwei Ziele erreicht würden: die Dunkelziffer verringern; und mehr Täter schuldig sprechen. Die Recherchen der SonntagsZeitung zeigen, wie einige Polizeien und Staatsanwaltschaften dies bereits heute vormachen.

Neben der Zürcher und der St. Galler gilt die Solothurner Kantonspolizei als Vorbild. Kathrin Wandeler ist Leiterin der Kerngruppe in Solothurn.

Hier ist 24 Stunden eine von neun speziell geschulten Polizistinnen auf Pikett. Für männliche Opfer stehen drei Beamte bereit. Während des siebentägigen Piketts rücke sie ein- bis zweimal aus, sagt Wandeler. Nach dem Pager-Alarm telefoniert sie der Patrouille am Tatort. Das Opfer darf nicht duschen, nicht auf die Toilette gehen sowie weder trinken noch rauchen. Sonst werden Sperma, Speichel oder Hautpartikel des Täters in Vagina, After oder Mund verwischt.

Dann rückt Wandeler selber aus. Immer in ziviler Kleidung. Und immer im zivilen Einsatzwagen ihrer Sondergruppe. «Wir wollen nicht unnötige Aufmerksamkeit auf das Opfer lenken.»

Wandeler fährt die Frau in die Frauenklinik des Inselspitals Bern. Die Rechtsmediziner sind routiniert und mit dem «Sexual Assault Kit» ausgestattet. Darin befinden sich etwa Abstrichtupfer zum Sicherstellen von DNA-Spuren sowie Verpackungsmaterial zur Aufbewahrung, damit die Spuren nicht mit fremder DNA kontaminiert werden.

Rechtmedizinerin Corinna Schön fotografiert Verletzungen wie Blutergüsse oder Schnittwunden und stellt fest, wann und wie diese zugefügt wurden.

In der gynäkologischen Untersuchung werden Verletzungen im Intimbereich festgestellt, und die Opfer werden auf Geschlechtskrankheiten getestet, nach Bedarf eine HIV-Prophylaxe oder Empfängnisverhütung eingeleitet.

Die ersten Aussagen sind zentral für einen Schuldspruch

Nach der rund zweistündigen Untersuchung bringt Polizistin Wandeler die Frau zum Polizeiposten in Solothurn. Den Dachstock im dritten Geschoss hat ihr Team vor über zehn Jahren für die Befragung von Opfern sexueller Gewalt eingerichtet. Man wähnt sich in einer Dachwohnung.

Die ersten Aussagen des Opfers sind nun zentral für einen Schuldspruch vor Gericht. Christoph Ill ist Staatsanwalt in St. Gallen und stellvertretender Leiter des Luzerner Kompetenzzentrums für Forensik und Wirtschaftskriminalität. Er sagt, die Qualität der ersten Einvernahme entscheide darüber, ob eine seriöse Aussage zur Glaubhaftigkeit des Opfers gemacht werden könne.

Denn bei vielen Sexualdelikten sagen die DNA-Spuren nur, dass ein sexueller Kontakt stattgefunden hat. Ob dieser gegen den Willen des Opfers war, bleibt offen. Um zu erhellen, was wirklich vorgefallen sei, müsse die Befragerin die Gabe haben, das Opfer zum Sprechen zu bringen, sagt Ill.

Henriette Haas, Professorin für forensische Psychologie an der Universität Zürich, die auch Polizisten und Staatsanwälte in Befragungstechnik schult, erklärt, weshalb die Befrager alles beim ersten Mal richtig machen müssen: «Man muss sich die Köpfe der Befragten als Tatort vorstellen. Polizisten dürfen dort so wenig eigene Spuren hinterlassen wie möglich, damit die Gedächtnisspuren später verwertbar sind.»

Psychologin Haas schildert eine typische Befragung, die keine verwertbaren Antworten liefert. Der folgende Dialog basiert auf Fällen aus ihrer Praxis und Lehrtätigkeit, wurde zum Schutz der Opfer aber verfremdet. Es geht um «Jasmin», eine 22-jährige Albanerin, die von ihrem Mann schwer misshandelt wird. Die Nachbarn melden sich bei der Polizei, die Jasmin anschliessend befragt.

Polizist: Ist Ihr Mann im Besitz von Waffen?

Jasmin: Nein.

Polizist: Hat er Sie jemals mit Waffen bedroht?

Jasmin: Nein, nur mit dem Brotmesser und gewürgt.

Polizist: Wie oft hat er Sie schon gewürgt, wurde Ihnen schwindlig oder fand ein Urin-Abgang statt?

Jasmin: Er legt seine Hände um meinen Hals und würgt, bis ich aufgebe. Er sagt, er könne mit mir machen, was er wolle, er könne ja wieder nach Albanien zurück, und dort kann ihm die Schweizer Justiz nichts machen. Er droht mich zu verstossen, ich könnte dann nirgendwo hin.

Polizist: Kam es zu Vergewaltigungen in Ihrer Ehe?

Jasmin: Nein, er ist ja mein Mann, ich wollte ihn nicht anzeigen. Er hat ja ein Recht auf ehelichen Verkehr. Er will Kinder, und ich möchte sie im Prinzip auch. Mehr kann ich in meiner jetzigen Verfassung nicht dazu sagen.

Psychologin Haas sagt, mit einer solchen Einvernahme könne man «schlichtweg nichts darüber sagen, was überhaupt passiert ist». Denn man wisse nicht, was das Opfer unter «Vergewaltigung» verstehe, das sei eine Worthülse.

Die Folge: Es entstehen Beweislücken. Deshalb wird der Beschuldigte trotz starker Indizien meist freigesprochen.

«Ein weiterer häufiger Fehler ist, dass ein Fragekatalog runtergerattert wird und Mehrfachfragen gestellt werden», sagt Haas. «Eine Antwort auf eine vorgespurte Frage ist wenig glaubhaft. Man müsste darauf hinarbeiten, dass die Frau von sich aus die Taten genau benennt, etwa indem man sagt: ‹Erzählen Sie bitte nochmals ganz genau, was er gemacht hat, nachdem er Sie zu Boden drückte. Es ist wichtig, dass Sie sagen, was er mit welchem Körperteil mit Ihnen gemacht hat.›»

Staatsanwalt Ill ergänzt: «Es muss ganz klar rüberkommen, dass der Beschuldigte gegen den Willen des Opfers mit seinem Penis in ihre Scheide eingedrungen ist, nur das entspricht dem Tatbestand der Vergewaltigung.»

Sind Kinder Opfer sexueller Gewalt, ist die Einvernahme noch anspruchsvoller. Ein Fall im Kanton Nidwalden illustriert die Folgen einer falschen Kinderbefragung: Die gynäkologischen Gutachten liefern starke Hinweise auf mehrmaligen sexuellen Missbrauch eines vierjährigen Mädchens und seiner sechsjährigen Schwester, wahrscheinlich durch den Vater. In zweiter Instanz wird er freigesprochen. Befragt wurden die Mädchen von einer Therapeutin, die sich laut Gerichtsakten auf ihre «wahnsinnig starke Intuition und auf ihr Wissen um die Bildsprache» berief.

Im Urteil, das acht Jahre nach dem Gang der Mutter zur Therapeutin gesprochen wurde, schreiben die Richter, heute könnten juristisch verwertbare Aussagen vorliegen, wenn die Mädchen einer Fachperson für Kinderbefragungen bei sexuellem Missbrauch überlassen worden wären.

Wichtig ist, dass das Kind in eigenen Worten erzählt

Schweizweit am meisten Befragungen von Minderjährigen führt der Dienst Sexualdelikte/Kindesschutz der Kantonspolizei Zürich durch. Franziska Schubiger hat 16 Jahre Erfahrung als Ermittlerin von Sexualdelikten.

Im Befragungsraum für Kinder zeichnen zwei Videokameras das Gespräch auf, Mutter oder Vater bleiben meistens draussen. Im Raum nebenan sitzt eine speziell ausgebildete Psychologin. Sie überwacht das Gespräch auf zwei Bildschirmen und muss einschreiten, wenn das Kind zu stark belastet wird. In diesem Raum sitzt auch der Ermittler, der später den Beschuldigten befragt.

Schubiger sagt, die erste, rund zweistündige Befragung sei entscheidend für die Aufklärung. «Die Befragungen sind intensiv. Kinder haben zum Beispiel oft noch gar keine Worte für Geschlechtsteile.» Wichtig sei, dass das Kind in eigenen Worten erzähle, was passiert ist, sagt Schubiger. «Ich beginne mit allgemeinen Fragen, zum Beispiel, was es gerade im Kindergarten mache, und komme dann nach und nach auf das Delikt zu sprechen.»

Was heute bei der Befragung von Kindern gesetzlich vorgeschrieben ist – dass ausschliesslich Fachpersonen zum Einsatz kommen –, soll auch für erwachsene Opfer schwerer Sexualdelikte gelten, findet Susanne Nielen, Leiterin der Beratungsstelle Opferhilfe Aargau/Solothurn und Fachhochschul-Dozentin.

«Wenn schon jemand den Mut aufbringt, ein Sexualdelikt anzuzeigen, so muss sichergestellt sein, dass die Person eine professionelle Betreuung erhält, unabhängig davon, wo sie sich meldet», so Nielen. Nur so kann, wie vom Bundesrat gefordert, die Dunkelziffer reduziert und können mehr Sextäter überführt werden.

Cloud-Computing: Das Geschäft mit der Wolke

Ausgestrahlt am 23. April 2013 in der Sendung Eco des Schweizer Fernsehens.

An jedem Computer in jedem Büro der Schweiz werden Unmengen von Daten produziert. Firmen speichern diese Datenberge zunehmend nicht mehr auf hauseigenen Servern, sondern legen sie dezentral in «Clouds», zu Deutsch «Wolken», ab. Das Geschäft mit den digitalen Wolken wächst rasant – eine Chance für findige Unternehmer.

100 Anwälte unter einem Dach: Gross-Kanzleien boomen

Ausgestrahlt am 4. März 2013 in der Sendung Eco des Schweizer Fernsehens.

Kanzleien mit einer Handvoll Anwälte haben heute kaum Chancen, an grosse Wirtschaftsmandate zu kommen. «Nur als Grosskanzlei mit Spezialisten in allen Bereichen kommt man an die grossen Unternehmens-Mandate», bestätigt Rechtsprofessor Leo Staub von der Universität St. Gallen den Trend. Die Branche boomt: Vor 15 Jahren gab es in der Schweiz noch keine Kanzlei mit mehr als 50 Anwälten. Heute beschäftigen sogar sechs Unternehmen 100 Anwälte oder mehr.

Diese Kanzleien beschäftigen mindestens 100 Anwälte:

– Lenz & Staehelin (150)
– Schellenberg Wittmer (130)
– Bär & Karrer (120)
– Homburger (110)
– Walder Wyss (100)
– Vischer (100)

Abzocke mit System: Je tiefer die Prämien, desto höher die Kosten

Ausgestrahlt am 18. Februar 2013 in der Sendung Eco des Schweizer Fernsehens und als Nachricht in der Tagesschau.

Schweizer Krankenversicherte haben, je nach Kanton, zu viel oder zu wenig Prämien bezahlt. Nun zeigt «ECO»: Gerade in den Kantonen, in denen zu wenig bezahlt wurde, sind die Gesundheitskosten pro Kopf besonders gestiegen. Im Studio nimmt Gesundheitsdirektor Pascal Strupler zum Thema Stellung.

SonntagsZeitung und Maz vergeben Förderpreis für investigativen Journalismus an Florian Imbach

Die SonntagsZeitung und die Medienschule Maz vergeben den diesjährigen Förderpreis für investigativen Journalismus an Florian Imbach. Der Preis beinhaltet einen einjährigen Vertrag als Reporter im Recherche-Desk der SonntagsZeitung und Le Matin Dimanche in Bern.

„Imbach ist durch sein breitgefächertes journalistisches Know-how aufgefallen. Das Nachwuchstalent hat als Reporter beim Nachrichtenmagazin 10vor10 mit aufwendigen Recherchen auf sich aufmerksam gemacht und hat bei verschiedenen Printmedien bereits erste Erfahrungen gesammelt.“

 

Gegenüber der Medienschule Maz sagt Florian Imbach: „Die Redaktion 10vor10 verlasse ich zwar nur ungern, ich glaube aber, dass ich mit diesem Förderpreis eine einmalige Chance erhalte, an den besten und interessantesten Geschichten zu arbeiten. Der Recherchedesk der SonntagsZeitung ist mit Sicherheit das spannendste journalistische Projekt der schweizerischen Medienlandschaft und ich freue mich, ein Jahr lang mit Top-Recherche-Journalisten zusammenzuarbeiten und von ihnen zu lernen.“