Interview mit Alt Bundesrat Moritz Leuenberger: «Alle werden sagen: Spinnen die eigentlich?»

Erschienen im SonntagsBlick vom 21. September 2014

Von Florian Imbach

Herr Bundesrat, am Mittwoch entscheidet das Parlament über den zweiten Gotthard-Strassentunnel. Bis anhin war eine zweite Röhre der sichere Tod jeder Gotthard-Vorlage.
Moritz Leuenberger: Zu meiner Zeit wäre der Aufschrei riesig gewesen. Jetzt ist meine Nachfolgerin im Amt. Es ist natürlich, dass mit einem politischen Generationenwechsel die Sachen anders gesehen werden. Ich werde meiner Nachfolgerin deswegen nicht in den Rücken fallen. Ich habe nicht den geringsten Groll, dass jetzt eine leichte Gewichtsverschiebung angestrebt wird. Bei allen anderen Dossiers Energie, Umwelt und auch sonst im Verkehr wurde die grosse Linie weitergeführt.

Aber wie kam es zu diesem Kurswechsel?
Auch ich sagte damals im Parlament, eine zweite Röhre sei für die Sicherheit besser. Zwei Röhren ohne Kapazitätserhöhung sind aber auch teuer. Beim Referendum wird man sehen, ob die Ängste der Agglomerationen überwiegen, weil ihnen Geld abgegraben wird. Sie haben das ganze Jahr Verkehrsprobleme, nicht nur an Ostern und Pfingsten wie der Gotthard. Als Jurist habe ich Vorbehalte. Der Alpenschutz ist in der Verfassung verankert, Volk und Stände haben das so gewünscht. Wenn man das ändern will, dann muss man das mit einer Änderung der Verfassung angehen.

Befürworter der zweiten Röhre sehen das anders. Eine gesetzliche Regelung genüge.
Wenn man ein Gesetz schafft, kann man das später ändern und die Kapazität eben doch erhöhen. Das würde der Verfassung widersprechen. Mit diesem Vorgehen zwingt man die Gegner zum Referendum. Richtig wäre, jetzt die Verfassung zu ändern und den Alpenschutzartikel aufzuheben. Dann müssten Volk und Stände obligatorisch darüber abstimmen.

Sie sagen, das Volk solle nach 20 Jahren nochmals über den Alpenschutz abstimmen?
Ich nicht. Aber wer eine zweite Röhre will, müsste so vorgehen. Hätten wir ein Verfassungsgericht, an das man später bei der Kapazitätserhöhung gelangen könnte, wäre das anders.

Mit einem zweiten Tunnel gerät die Verlagerungspolitik der Schweiz unter Druck.
Ja, der Druck wird kommen. Stellen Sie sich vor, an Ostern oder Pfingsten hat es zehn Kilometer Stau und die Leute wissen, man könnte ohne weiteres zweispurig durchfahren. Dann werden alle sagen: «Spinnen die eigentlich?» Und dieser Druck kann eben dazu führen, dass ein Gesetzesartikel geändert wird, und dann ist die Kapazität massiv erhöht.

Der Alpenschutz ist aber schon heute nicht umgesetzt.
Es war unmöglich, sowohl den Alpenschutzartikel zu erfüllen als auch die bilateralen Verträge mit der EU abzuschliessen. In dieser Situation boten die Initianten nachträglich Hand, ihre Initiative so auszulegen, dass wir trotzdem ein bilaterales Verkehrsabkommen erreichen konnten.

Das Landesverkehrsabkommen war also nur möglich, weil Sie mit den Initianten Kompromisse aushandelten?
Richtig. Wir sagten ihnen, dass wir alles machen, was wir können, um dem Ziel der Initiative so nahe wie möglich zu kommen. Aber vollständiges Erfüllen war nicht möglich. Das hat man zwar von Jahr zu Jahr versprochen, das Ziel von 650 000 Lastwagen pro Jahr haben wir aber nie erreicht. Wir haben Hilfsmassnahmen getroffen, Subventionen für die rollende Landstrasse, Tropfenzählersysteme und weiss ich was alles. So haben wir heute 1,2 Millionen Lastwagen pro Jahr, ohne die Initiative wären es gegen zwei Millionen.

Ist das nicht schizophren, wenn man von Anfang an weiss, dass das Ziel nicht erreichbar ist und trotzdem behauptet, man wolle es erreichen?
Die Frage geht an die Initianten. Eine Initiative ist ja immer auch ein Kampfmittel und steckt deswegen irreal hohe Ziele. Deswegen müssen die Initianten nachher die Verantwortung für einen Kompromiss aufbringen. Wer das nicht will, ist unglaubwürdig. Das ist für mich der grosse Unterschied zwischen den Leuten der Alpeninitiative und denen der Masseneinwanderungs-Initiative. Beide griffen die Bilateralen an und haben dem Bundesrat einen Knebel zwischen die Beine geworfen. Aber die einen haben mitgeholfen, eine Lösung zu finden.

Die SVP zeigt bei ihrer Masseneinwanderungs-Initiative kein Interesse an einem Kompromiss.
Die Initianten der Masseneinwanderungs-Initiative haben ganz genau gewusst, dass eine Annahme zur Unmöglichkeit des bilateralen Wegs führen wird. Sie schreiben eine reine Gesinnung, etwas Fantastisches, in eine Initiative und kümmern sich nicht um die Verantwortung, das umzusetzen. Sie müssten jetzt Hand bieten, damit die Bilateralen möglich bleiben.

Sie waren 38 Jahre Politiker, 15 Jahre Verkehrsminister und Bundesrat, zweimal Bundespräsident. Vermissen Sie das?
Es war eine gute Zeit, aber ich möchte trotzdem nicht mehr dort sein. Es braucht auch Rotation und ich war weiss Gott lang dort. Heute bin ich ein ehemaliger Bundesrat und kann meine Vergangenheit nicht einfach abstreifen. Das heisst auch, dass ich mich dafür interessiere, was geht. Meine Aufgabe besteht aber nicht darin, besserwisserisch meinen Nachfolgern zu sagen, was sie zu tun haben. Otto Stich hat oft genug öffentlich genörgelt und uns gesagt, was wir zu tun hätten.

Als Bundesrat hatten Sie Macht. Konnten Sie gut loslassen?
Das hat mir keine Mühe gemacht. Beim Zeitunglesen denke ich nicht, das müsste man jetzt anders machen. Der grosse Wechsel für mich war, dass ich plötzlich keine Menschen mehr um mich hatte: Mit meinen Leuten hatte ich freundschaftliche Verhältnisse, mit dem Stab, mit den Mitarbeitern in den Ämtern. Und plötzlich sitze ich alleine im Büro vor dem Bildschirm. Das war ein gewaltiger Schritt in die Einsamkeit.

Sie schmunzelten zu Beginn, als ich Sie mit «Herr Bundesrat» ansprach.
Es ist zwar nach Protokoll die richtige Ansprache aber «Moritz Leuenberger» ist mir lieber.

Sie wollten keine Fragen zu Ihnen als Privatperson …
Fragen dürfen Sie immer stellen.

Gut. Was machen Sie denn jetzt?
Verschiedenes. Verwaltungsrat einer Firma, die erneuerbare Energien und Energieeffizienz in Europa finanziert, Präsident der Swiss Luftfahrtstiftung, viele Auftritte, Reden zur direkten Demokratie, zum Föderalismus oder zur EU. Auch meine kulturellen Auftritte in der Tonhalle oder im Theater haben immer einen politischen Hintergrund.

Sie sind immer noch Politiker?
Ja. Wir alle sind immer Politiker. Auch Journalisten. Alles ist von politischer Bedeutung.

Sie sagten in einem Interview, Sie hätten gerne einen Roman geschrieben. Dieser würde aber wahrscheinlich verrissen.
Ja, weil ihn nicht Literaturkritiker kommentieren würden, sondern Politjournalisten. Ich kann nicht plötzlich vom Bundesrat zum Romancier werden. Mein Name ist immer mit meinem früheren Amt verbunden. Ich muss diese Wechselwirkung auch spielen lassen. In einer Rede zeigte ich kürzlich auf, wie das politische Amt den Charakter verändert.

Das Interview erscheint an Ihrem Geburtstag. Was machen Sie?
Ich habe nichts Besonders vor. Es ist auch nicht ein so wichtiger Geburtstag.

Doch, 68!
Ja, stimmt. Das gleiche Jahr, in dem ich politisiert wurde. Ich bin ein 68er.