Rekord-Blitzer von San Vittore: 6,7 Millionen und zwei Mörder

Rekord-Blitzer Ausschnitt

Erschienen in der SonntagsZeitung vom 2. März 2014

Von Florian Imbach, Oliver Zihlmann und Alexandre Haederli

San Vittore GR An der engen Autostrasse A 13 Richtung San Bernardino steht seit Jahren ein alter, schon leicht angerosteter Radar. Das graue Gestänge mit der abgeblätterten Farbe sieht unspektakulär aus – doch in Wahrheit ist der Apparat eine Geldmaschine: 6,7 Millionen Franken bescherte er den Bündnern im Jahr 2013. Er brachte doppelt so viel ein, wie alle zwölf stationären Blitzer der Kantonspolizei Zürich zusammen.

Die SonntagsZeitung hat alle 19 Kantone und die 6 grössten Städte angeschrieben, die fest installierte Blitzer montieren. Die Frage lautete: Wie viele Fahrzeuge haben ihre «aktivsten» Blitzer im 2013 jeweils erwischt? Über ein Drittel hat geantwortet (siehe Kasten). Demnach hat ein Radar auf der A 2 in Basel am häufigsten geblitzt. Geht es aber um die Einnahmen, dürften die beiden fest installierten Geräte der Bündner alle Schweizer Rekorde brechen. Zusammen nahmen die Standorte San Vittore und San-Bernardino-Tunnel 10,4 Millionen ein.

Damit gehören sie sogar international zur Spitze. Die drei neuen Rekordanlagen auf der sechsspurigen Autobahn A 8 um Stuttgart nahmen gemeinsam umgerechnet 7,6 Millionen Franken im Jahr ein. Deutschlands Blitzer Nummer eins in Bielefeld, wirft pro Jahr kaum mehr ab als der Goldradar von San Vittore.

So stellt sich die Frage: Wählen die Bündner besonders lukrative Standorte für ihre Blitzer?

Die Frage geht an William Kloter, 36, Regionenchef der Kantonspolizei im Tal Misox. Kloter ist ein Zupacker, der Klartext redet. Bis letzten September war er die Nummer drei der Schweizergarde im Vatikan und persönlicher Leibwächter der Päpste Benedikt XVI. und Franziskus. Seit er seinen Job angetreten hat, konnte er schon einige Erfahrung mit dem Radar sammeln. «Die Menschen sind einfach unachtsam», erklärt er. «Man kann wirklich nicht sagen, dass dieses Gerät hinterhältig aufgestellt ist.»

Die Autobahn A 13 ist eine der schwierigsten Europas

Als Beweis bittet er zur Probefahrt auf dem Abschnitt vor dem Blitzer. Die Autos kommen von der Gotthard-Strecke mit einer Höchstgeschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde. Nach der Abzweigung zur A 13 stehen nicht weniger als drei mannshohe Schilder mit Tempolimit 80. Dazu prangt 4000 Meter vor dem Blitzer noch eine zwei Meter breite Überkopftafel über den Autofahrern, auf der mit grossen Lettern steht: «Radar». Warum also treten hier so viele noch aufs Gas? Zumal die Anlage seit 20 Jahren steht und weder getarnt noch schlecht sichtbar ist?

«Die A 13 gehört zu den schwierigsten Autobahnen Europas», erklärt Kloter. «Viele unterschätzen sie und fahren zu schnell.» Vor allem wenn bei Stau vor dem Gotthard der Ferienverkehr Richtung San Bernardino ausweicht. Kloter: «Dann geht alles durch diese ‹hohle Gasse›.»

Der Radar wurde in den 90ern zusammen mit der Leitplanke zwischen den Fahrtrichtungen aufgestellt. «Davor rasten hier die Autos mit über 100 aufeinander zu, es trennten sie nur Zentimeter», erklärt Kloter, «wenn es ‹chlöpft›, waren die Insassen meist tot.» Vor allem wegen der vielen Toten entschieden sich die Bündner, hier zu intervenieren.

Seit der Radar in San Vittore steht, gibt es zwar praktisch keine Unfälle mehr, aber an Rasern mangelt es nicht. 142 Autos werden hier im Schnitt täglich geblitzt. 700 Autofahrer fuhren letztes Jahr über 121. Das sind «grobe Verkehrsregelverletzungen» mit Anzeigen, mehreren Tausend Franken Busse und Ausweisentzug. Darunter sind viele Raser aus dem Ausland, die im Rechtshilfeverfahren angeklagt werden.

Letzten Oktober brauste ein Brasilianer mit 173 am Radar vorbei. Im Juni 2010 lösten neun britische Sportwagen innert 60 Sekunden ein Blitzlichtgewitter aus. Drei Briten waren den Ausweis auf der Stelle los. Als im Juli 2003 ein notorischer Raser mit 153 geblitzt wurde, stieg er kurzerhand aus dem Auto, demolierte den Kasten (Sachschaden 40 000 Franken) und fuhr samt Kamera davon.

Zwischen 2006 und 2012 stiegen die Busseneinnahmen der Bündner von 3 auf über 10 Millionen Franken. Ein Grossteil davon dürfte von San Vittore kommen. Der Erfolg des Radars überfordert sogar die Finanzplaner in Chur. 2012 veranschlagten sie für Bussen fast vier Millionen Franken zu wenig. Geldgier kann man den Bündnern dennoch kaum unterstellen, denn ausgerechnet der wohl einträglichste Blitzer der Schweiz wird Ende 2014 demontiert. Der Grund: Die Fahrbahn wird erweitert, die Gefahrenstelle fällt weg. Einen Ersatz soll es nicht geben.

Die verlorenen Millionen seien für die Kantonspolizei kein Problem, erklärt William Kloter. Trotzdem trauert er dem Blitzer jetzt schon nach. «Dieses Gerät hat uns oft geholfen, schwierige Kriminalfälle zu lösen», sagt er. Letzten August überführte es zum Beispiel einen Dieb und notorischen Verkehrsrowdy, der sich eine Verfolgungsjagd mit Streifenwagen lieferte.

Trauriger Höhepunkt seiner Karriere erlangte der Radar im Jahr 2002. Damals ermordeten zwei Rumänen die 31-Jährige Flavia Bertozzi, die schwanger war mit Zwillingen. Überführt wurden die Täter auch dank einem Fahndungsfoto. Es entstand am 3. Dezember 2002, als die beiden mit ihrem Audi A4 vom Tatort rasten. Um 21.47 Uhr blitzte ihnen der Radar von San Vittore ins Gesicht.